Zusammenfassende Bemerkungen zu A192  (Hans Albert, Erkenntnis und Moral. Ein Nachtrag zum Positivismusstreit)

Aus Werturteilen oder Entscheidungen sind auf rein logischem Weg keine Erkenntnisse zu gewinnen; und aus Erkenntnissen keine Werturteile oder Entscheidungen. Dennoch gibt es kein Wissen, das ohne Bewertungen oder Entscheidungen zustandegekommen wäre, und bei Bewertungen oder Entscheidungen spielen Erkenntnisse nicht nur eine triviale, sondern oft eine  richtunggebende Rolle. Der Zusammenhang von Erkenntnis und Moral wird von Albert neu überdacht und führt zu einem Argument, das gegen den ethischen Relativismus und für universale Züge in der Ethik spricht. 

Ausgangspunkt der Überlegungen ist der  Vorwurf eines  "halbierten Rationalismus", der im sog. Positivismusstreit der 60er Jahre von Seiten der Kritischen Theorie gegen den kritischen Rationalismus erhoben wurde, wonach dieser wegen seines Nonkognitivismus auf den Bereich instrumenteller Vernunft beschränkt bleibe, mithin im Bereich der praktischen Vernunft ein Defizit aufweise, während es der Kritischen Theorie gelinge, den Graben zwischen Theorie und Praxis zu überwinden.

Der kritische Rationalismus vertritt jedoch eine andere Auffassung: Der Kognitivismus in der Ethik scheitert nach wie vor am Humeschen Gesetz. Dennoch konnte der Graben zwischen Theorie und Praxis im kritischen Rationalismus auf Grund methodologischer Analysen überwunden werden: (1) auch in der Erkenntnispraxis spielen Werte und Entscheidungen eine wichtige Rolle; (2) das argumentative Verhalten der Wissenschaftspraxis [wie Kritisieren, Korrigieren und Verbessern] kann auf jede andere Praxis übertragen werden;  und (3) greift auch die praktische Vernunft auf Erkenntnisse und Erfahrungen zurück, um Werte und moralische Regeln kritisieren und korrigieren zu können.

Die Einsicht in die rationale Diskutierbarkeit von Entscheidungen und ethischen Werten bleibt denjenigen leicht verborgen, die dem kritischen Rationalismus die ethische Abstinenz des logischen Positivismus unterstellen; desgleichen denen, die Werturteilen einen nur expressiven Charakter zuschreiben oder die  die Webersche Forderung nach Wertfreiheit so auslegen, als hätten Werturteile in den Wissenschaft nirgendwo eine Rolle zu spielen, was weder Max Weber gerecht wird, noch von kritischen Rationalisten je in Betracht gezogen wurde. Auch wer dem Wertplatonismus oder Max Scheler folgend Werte und Wertverhalte für erkennbare Bestandteile  der Wirklichkeit hält, wird eher der Ontologisierung der ethischen Sprache nachspüren und erliegen, als der rationalen Diskussion von Werten etwas abgewinnen können. Durch verengte Sichtweisen dieser Art konnten sich idealistische und relativistische Anschauungen zunehmend auch in der Ethik ausbreiten.

Unter Berücksichtigung neuerer Literatur (R. Boudon, J. Q. Wilson, T. Todorov, S. O. Welding, B. Gesang und andere) zeigt Albert, daß trotz der fehlenden logischen Brücke zwischen Sein und Sollen realwissenschaftliche Erkenntnisse dazu beitragen können, den ethischen Relativismus zu widerlegen. Die Konstanz der menschlichen Natur und wiederkehrende Situationen führen dazu, auf gleichartige Probleme gleichartige Antworten zu geben. Für die Aufdeckung und Erklärung solcher universaler Züge in der Ethik ist es angebracht, gleichermaßen auf eine naturalistische Moralphilosophie wie auf einen moralphilosophischen Rationalismus zurückzugreifen.  Die so erreichbare intersubjektive Geltung moralischer Urteile unterscheidet sich allerdings von jener Geltung im Erkenntnisbereich, der die Idee objektiver Wahrheit zugrundeliegt. [Im ersten Fall beruht die intersubjektive Geltung darauf, daß viele das gleiche moralische Problem lösen, im zweiten Fall darauf, daß alle die gleichen Wirklichkeit darstellen wollen.]

Neue Erfahrungen führen nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in der Moral zu Fortschritt (Verbesserungen). Moralische Erfahrungen stellen nicht besondere Zugänge zu moralischen Werten dar, vielmehr sind eigene, fremde oder nur (in Gedankenexperimenten) vorgestellte moralischen Erfahrungen Mittel, jene Werte in Frage zu stellen (und zu ihrer Korrektur beizutragen), die uns als Handlungsgrundlage dienen, wenn wir zwischen Alternativen eine Entscheidung treffen müssen.

Wegen ihrer angeblichen Unfähigkeit, Normen und Zwecke zu bewerten, wird die "instrumentelle Vernunft"  nicht nur aus der Ethik ausgegrenzt, sie ist häufig auch selber Zielscheibe moralischer Vorhaltungen. Das rührt daher, daß instrumentale Bewertungen auch dann positiv ausfallen können, wenn der Zweck, dem sie dienen, negativ bewertet wird. Natürlich mißlingt eine Gesamtbewertung, wenn sie nur die Mittel und nicht den Zweck berücksichtigt. Dennoch ist es nicht nur in der Ökonomie, sondern auch in der Ethik möglich und sinnvoll, die Mittel unabhängig von Zwecken zu bewerten. Dieselben Mittel dienen oft ganz verschiedenen Zwecken. Zweck-Mittel-Schlüsse sind daher problematisch, kommen aber immer wieder vor und sind wegen der Komplexität praktischer Situationen mitunter schwer erkennbar.

Die Situationskomplexität erschwert oft auch festzustellen, inwieweit jemand, der ein bestimmtes Mittel bereitstellt, dadurch in bestimmte Zwecke moralisch verwickelt wird. Einer der Gründe für den Zweifel am moralischen Fortschritt der Moderne liegt daher im Verlust eindeutiger moralischer Verantwortlichkeit, wie er im Fall komplexer Handlungsverkettungen beobachtet wird. Letztere resultieren vor allem aus der modernen Arbeitsteilung. Die Tendenz zu rein instrumentalen Bewertungen von Handlungen wird durch solche oft als Folgen der Aufklärung begriffenen Entwicklungen verstärkt.

Instrumentale Bewertungen rühren aber nicht nur von der wachsenden Komplexität der Verhältnisse her, sondern haben auch noch andere Ursachen, die aufgeklärt und beseitigt werden könnten. Untersuchungen von Tzvetan Todorov und Lothar Fritze einbeziehend spricht Albert die Techniken totalitärer Systeme an, die das Denken absichtsvoll auf technische Aspekte und damit auf bloß instrumentale Bewertungen lenkten, die den Menschen selbst zum Instrument herabsetzten, bestimmte Gruppen ausgrenzten, Wertungen entgegen dem Wertfreiheitsgebot wissenschaftlich verbrämten und ihre Ideologie gegen Kritik abschirmten. Was das Funktionieren totalitärer Systeme betrifft, so darf man neben den in Handlungsketten Mitwirkenden den initiierenden Einfluß der "wahren Gläubigen" nicht außer Acht lassen.

Hans-Joachim Niemann, 19.7.2000