Zusammenfassende Bemerkungen zu A193 (Hans Albert, Methodologischer Revisionismus und diskursive Rationalität, Bemerkungen zur Methodendiskussion in den Sozialwissenschaften, Österreichische Zeitschrift für Soziologie 25 (1), (2000), S. 29-45)

Kürzlich erschienene "Reformulierungen" Popperscher Gedanken beantwortet Hans Albert mit dem Hinweis auf Arbeiten von Popper, ihm selbst und Bartley, die die Autoren nicht zur Kenntnis genommen haben, obgleich sie teilweise schon seit Jahrzehnten vorliegen. Unter anderem korrigiert sein Artikel einige den kritischen Rationalismus betreffende Klischees (z.B. das eines reinen Falsifikationismus) und erinnert daran, daß längst das Bild eines methodologischen Revisionismus mit weit über die Naturwissenschaften (und Wissenschaften überhaupt) hinausgehenden Anwendungsgebieten, wie er ihn selbst seit seinem ersten Traktat ausgearbeitet hat, angemessener wäre. Nochmals werden die einschlägigen Quellen genannt.

Konkret geht es um die Frage, (1) wie der Sprung von forschungsleitenden alten Sichtweisen auf neue zustande kommt, und zwar speziell in den Sozialwissenschaften, und welche Rolle Poppers Falsifikationismus und seine Formulierung des Rationalitätsprinzips dabei spielen; (2) wie Wissenschaftstheorie durch ein Denken in Verfassungen bereichert werden könnte und (3) ob die Popper unterstellte  "Abwahldemokratie" durch eine Konsensdemokratie ersetzt werden sollte.

Albert ruft in Erinnerung, daß durch den Einfluß der Frankfurter Schule und den T. S. Kuhns Poppers Beitrag zur Methodendiskussion in den  Sozialwissenschaften lange verdrängt worden ist. Besonders infolge der Arbeiten Kuhns hatte sich der Eindruck verbreitet, Poppers wissenschaftliche Methodologie sei durch seinen Falsifikationismus und sein Abgrenzungskriterium ausreichend charakterisiert und daher nur beschränkt tauglich. Tatsächlich hatte aber auch schon Popper einen methodologischen Revisionismus ausgearbeitet, der keineswegs nur auf den naturwissenschaftlichen Bereich beschränkt war, und er hatte immer die Bedeutung des sozialen Charakters wissenschaftlicher Erkenntnisprozesse betont.

Daß Poppers Logik der Forschung der Wissenschaftsgeschichte nicht gerecht werde, hatte Andersson 1988 widerlegt. Die Rolle des Kuhnschen paradigmatischen Rahmens, innerhalb dessen Normalwissenschaftler arbeiten und Außenseiter nicht zulassen, sieht Albert angesichts historischer Beispiele ähnlich wie Popper: Wissenschaftler, die am Fortschritt beteiligt waren, haben solche Rahmen immer wieder gesprengt, und eine Methodologie, die diesen Tatsachen nicht gerecht wird, kann auch den Erkenntnisfortschritt nicht adäquat erklären. Bei der Weiterentwicklung des kritischen Rationalismus hatte Albert wesentlich dazu beigetragen, das Abgrenzungsproblem hinter einem methodologischen Revisionismus zurücktreten zu lassen, dessen Anwendungsbereich auf  Problemlösungsversuche jeglicher Art ausgedehnt wurde.

In den letzten Jahren sind einige intensiver auf Poppers Methodologie der Sozialwissenschaften eingehende Bücher  erschienen (Schmid, Keuth, Gadenne, Waschkuhn, Steinvorth, Pies/Leschke), und einige dieser Arbeiten in dem Aufsatzband von I.Pies, M. Leschke (Hg.), Karl Poppers kritischer  Rationalismus (Tübingen 1999), werden hier  einer genaueren Analyse unterzogen.

Ingo Pies reformuliert die kritisch-rationale Kernbotschaft, weil er glaubt, zwei Schwachstellen im Popperschen Denken entdeckt zu haben, wonach (a) Poppers Ruf nach Wahrheit und individueller Freiheit nur in der diskursiv  unbefriedigenden Form eines Appells vorgebracht worden sei; und (b) habe Popper den Übergang von der  Falsifizierbarkeit zur Kritisierbarkeit nicht konsequent vollzogen und auch dessen Konsequenzen für  das Problem der Abgrenzung nicht voll erkannt. Der Piessche Verbesserungsvorschlag besteht darin, ein  "zweistufiges Denken in Verfassungen" einzuführen, kraft dessen nicht nur Alternativen innerhalb diskursiver Rahmenbedingungen (Arbeiten an Problemlösungen) kritisiert  werden können, sondern auch Alternativen zu diesen Rahmenbedingungen selbst (Arbeiten an der Problemstellung). Damit sollten nach Pies künftig Denk- und Handlungsblockaden besser durchbrochen werden können.

Da Pies die Änderung von Rahmenbedingungen als 'konstruktive Kritik' bezeichnet, erinnert Albert daran, daß solche Problemverschiebungen natürlich  auch mißlingen und in Sackgassen führen können. Und mit einer im Piesschen Sinne 'konstruktiven  Kritik zweiter Ordnung' schlägt er dessen Problemstellung verbessernd vor, das Verfassungsproblem  weniger metaphorisch und zudem auf einen viel näher liegenden Zusammenhang anzuwenden, nämlich auf  Poppers Idee der Wissenschaft als einer sozialen Veranstaltung mit einer institutionell geregelten  Erkenntnispraxis, so daß auch Probleme wie das der Durchsetzbarkeit oder das der Anreize zur  Regelbefolgung behandelt werden könnten, ein Programm, das allerdings kritische Rationalisten [nämlich Albert selbst] schon längst in Angriff genommen hatten.

Poppers [von den kritisierten Autoren zu eng ausgelegte] Aussagen über sein Rationalitätsprinzips [wonach es an die Stelle psychologischer Erklärungen zu treten habe und seine empirische Prüfung weniger wichtig sei als die Prüfung des Modells, in dem es eine erklärende Rolle spiele] korrigiert Albert dahingehend, daß (a) seine empirische Prüfung  natürlich möglich ist und (b) psychologische Erklärungen keineswegs aus der Soziologie ausgegrenzt werden dürfen [was er ja schon in seinen frühen Arbeiten betont hat], und (c), wenn gute Gründe vorliegen, auch das Rationalitätsprinzip selbst zur Disposition gestellt werden darf. [Es zeigt sich hier ganz klar, wie wenig Sinn es macht, den kritischen Rationalismus nur an bestimmten Stadien und nur an Poppers Denkens festzumachen.]

Andreas Suchanek möchte die Sozialwissenschaften auf Praxisrelevanz beschränken und, da man auch mit falschen Modellen brauchbare Ergebnisse erreichen kann, zieht er es vor, technologische Aussagensysteme nach ihrer Fruchtbarkeit bezüglich der Lösung praktischer Probleme zu beurteilen und nicht nach ihrer Wahrheitsnähe, wobei für das, was Fruchtbarkeit ist, kein Kriterium, sondern der Spruch der Forschergemeinschaft maßgebend sei. Die Beschränkung der Sozialwissenschaften auf die Gestaltung der sozialen Ordnung ist aber, wie Albert zeigt, nicht möglich, weil man den Realitätsbezug sozialwissenschaftlicher Lösungen so einfach nicht ausblenden kann. Und der Spruch der Forschergemeinschaft ist nicht einfach als solcher akzeptabel, sondern allenfalls deshalb, weil ihm bestimmte Kriterien zugrundegelegen haben.

Eine der Aufgaben der Sozialwissenschaft ist, die unerwünschten Folgen von Handlungen zu korrigieren, die auch dann eintreten, wenn alle Akteure der Logik der Situation entsprechend rational handeln. Eine andere ist, Institutionen zu gestalten, die ein besseres Funktionieren der Gesellschaft fördern. Albert moniert, daß bei Suchanek (a) das Hauptproblem, worin denn dieses bessere Funktionieren bestehe, offen bleibt; und (b) die vorgeschlagene Methode (Alternativen zu vergleichen) in seinen, seit mehr als dreißig Jahren vorliegenden Arbeiten ausgearbeitet wurde [in Suchaneks Aufsatz wird Albert nicht zitiert, was, weil es sich um einschlägige Arbeiten handelt, nach den üblichen wissenschaftlichen Standards einer Erklärung bedurft hätte]. Für die Bewertung der Alternativen ist (c) der Konsens der Betroffenen nicht das einzige Kriterium; und (d) orientiert sich die Sozialtechnologie zur Herstellung einer besseren sozialen Ordnung nicht nur an Kooperationsgewinnen, sondern auch an regulativen Prinzipien wie Freiheit und Gerechtigkeit.

Pies' Bemühung, eine Denkrichtung zu ändern, bei der zunehmende Demokratisierung nicht mit zunehmender Europäisierung korreliert [was er mit einer mehr verdunkelnden als erhellendem Metapher "orthogonales Positionieren" nennt und damit eine 90-Grad-Drehung in einer Ebene, die von Maßzahlenachsen für Demokratisierung und Europäisierung aufgespannt wird, meint], führt ihn zur Konsensidee. Dabei werden Jahrzehnte alte Einwände ignoriert beziehungsweise als unerheblich behandelt: (a) die praktische Unmöglichkeit, einen wirklichen Konsens zu erreichen;  (b) der fehlende Nachweis, warum ein Konsens als Kriterium ausreichend sei; und (c) warum bei einer Reformulierung des kritischen Rationalismus die Konsensidee der Albertschen Behandlung normativer Probleme mittels methodologischen Revisionismus vorzuziehen wäre, obgleich letzterer gut ohne die problematische Konsensidee auskommt.

 Hans-Joachim Niemann, 27. Juli 2000.