Woran glaubt Europa?

Wir Europäer haben keine einheitliche Religion; wir haben keinen einheitlichen Staat; wir haben nur wenige einheitliche Überzeugungen. Jahrhunderte mit blutigen Machtkämpfen und Religionskriegen haben uns gelehrt: 

Pluralismus ist das, woran wir glauben

oder glauben sollten, wenn wir in Frieden und gegenseitiger Achtung leben wollen. Das Nebeneinander der verschiedenen Denk- und Lebensweisen ist das, was uns am besten charakterisiert. Darauf dürfen wir stolz sein. Denn dieser Stolz  ist nicht überheblich und nicht gefährlich. Er ist nicht gefährlich, weil zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit eine Art Supernation entstanden ist, die nicht glaubt, auserwählt oder besser zu sein als andere Nationen, die ihre Lebensweise anderen nicht überstülpt, sondern vorlebt und zur Nachahmung anbietet. Der Pluralismus der Lebensweisen schließt niemanden aus aus unserer 'europäischen' Lebensweise, die längst weit über Europa hinausreicht, es sei denn alle die, die diesen Pluralismus der Meinungen und Lebensweisen zerstören wollen.

KRITISCHER RATIONALISMUS ist ein anderer Name für die Tradition des Pluralismus der Denk- und Lebensweisen.

Diese Tradition reicht weit in die Antike zurück bis zu den vorsokratischen Denkern im 6. Jh. v. Chr. Seit Thales von Milet, seinem Schüler Anaximander, seit Xenophanes, Heraklit, Parmenides und vielen anderen müssen deren Schüler die Lehren der Meister nicht mehr rein und unversehrt bewahren und weitergeben, sondern sind aufgefordert, sie zu kritisieren und weiterzuentwickeln. Die Tradition der kritischen Diskussion war entstanden, die mit unglaublicher Geschwindigkeit Ideen entwickelt und die jeweils besten auswählt. So entstanden aus den Spekulationen über den Kosmos, in dem wir leben, die ersten Wissenschaften. (Siehe dazu im "Lexikon des Kritischen Rationalismus" das Vorwort und die Stichwörter Thales, Pluralismus, Kritischer Rationalismus).

Was die europäische Tradition stärker charakterisiert als die großen Religionen oder die großen Ideologien  ist, dass sie fortgesetzt nach neuen Alternativen sucht und durch gegenseitige Kritik herausfindet, was die jeweils beste Alternative ist. 

Alternativensuche und Kritik sind das Entwicklungsprinzip der Wissenschaften, der Wirtschaft, des Rechts und der Demokratie.

Diese vier Institutionen - Wissenschaften, Wirtschaft, Recht und Demokratie - haben Europa und die Welt mehr geprägt haben als irgendeine andere geistige oder religiöse Strömung. 

(Siehe dazu im "Lexikon" die Stichwörter Kritik, Konstruktion, Europäischer Sonderweg, Hans Albert, Evolutionäre Erkenntnistheorie)

KRITISCHER RATIONALISMUS ist der Glaube daran, dass Probleme mit Gewalt niemals besser gelöst werden können als mit Argumenten (siehe das Stichwort Vernunft).

KRITISCHER RATIONALISMUS glaubt nicht an den Konsens, nicht an die Übereinstimmung aller vernünftig Diskutierenden am Ende einer Diskussion, sondern an den Dissens, an die Meinungsverschiedenheit. In jeder Diskussion wird es Überstimmte geben. Und jeder Überstimmte hat das Recht, weiter für seine Meinung zu werben; - nur nicht mit Gewalt. 

Nur so lange es Dissens gibt, gibt es Diskussionen. Und so lange es Diskussionen gibt, gibt es immer weiter verbesserte

Lösungen unserer  Probleme.

(Siehe die Stichwörter rationale Diskussion, Mehrheitsprinzip und rationales Problemlösungsverhalten)

Kritischer Rationalismus vertritt eine neue Art der Toleranz:

Toleranz erträgt nicht nur gewaltlos die Meinung des anderen, sondern Toleranz bedeutet, es für möglich zu halten, dass der andere, der Überstimmte, Recht hat und wir selber Unrecht haben.

Vielleicht sind die Überzeugungen und  die Lebensweise der Minderheit besser als unsere. Natürlich müssen wir uns nicht zu eigen machen, was wir nicht mit vernünftigen Argumenten einsehen können. (Siehe die Stichwörter Toleranz und Kernsatz des Kritischen Rationalismus)

KRITISCHER RATIONALISMUS ist eine 

Verpflichtung zu einfacher und klarer Sprache und  eine (friedliche) Kampfansage an alle, die mit einem pompösen technischen Stil Wissen vortäuschen, das sie nicht haben, und sich durch Unklarheit und Aufblähung eine Position verschaffen, die sie der kritischen Diskussion entzieht.

(Siehe Stichwörter Einfachheit, Klarheit, Immunisierungsstrategie, Imponierprosa)

Philosophie wird noch immer für eine harmlose Wissenschaft im Elfenbeinturm gehalten. Insofern mit Recht, als viele Philosophen aus ihrer Disziplin  Fabrik für Begriffsverarbeitung  gemacht haben, deren undurchschaubare Produkte sie vor öffentlicher Kritik und Kontrolle schützen sollen. Die tatsächliche Philosophie in unseren Köpfen ist jedoch von gesellschaftlich-politischer Brisanz. Vor allem dann, wenn gefährliche Leitideen ihr geheimes Potential entfalten. Deshalb geht es darum, Leitideen zu identifizieren und durch bessere zu ersetzen. 

hjn 6/2004; 1/2008