Zehn Werte des kritischen Rationalismus

 

1. Wahrheitsinteresse

Das heißt: die Wahrheit, die Übereinstimmung mit den Tatsachen, suchen; also sich immer um die richtige Darstellung der Wirklichkeit bemühen.

(Zwar ist das, was man in den Wissenschaften, der Politik, der Juristerei usw. "Wahrheit" nennt, in der Regel das Ergebnis eines Beschlusses auf Grund eines mehr oder weniger großen Konsenses; aber die Grundlage des Beschlusses sollte bis auf Widerruf die Übereinstimmung mit den Tatsachen sein, wie sie von der Mehrheit qualifiziert Urteilender vermutet wird.)

 

2. Objektivität

Wenn es um Erkenntnis geht, soll man sich von der Erfahrung und Logik leiten lassen und nicht von Leidenschaften und Gefühlen. Die Objektivität ist um so größer, je mehr andere auf unabhängigem Wege zu gleichen Erkenntnissen kommen. 

 

3. Wissenschaftlichkeit

Eine positive Einstellung gegenüber den Ergebnissen und Arbeitsmethoden der Wissenschaften. Es sind die Wissenschaften, die unser Weltbild schaffen, uns Erklärungen liefern, fast unendlich viele Handlungsmöglichkeiten bereitstellen und uns Sicherheit geben. Es sind die Wissenschaften, die Welten schaffen, die komplexer und interessanter sind als alles, was sich Dichter je haben ausdenken können (die Welt der Stern, der Schmetterlinge, der Moleküle, der Ozeane, die der Prähistorie usw.).  Trotz aller Erklärungen, trotz aller "Entzauberung" bleiben es tiefgründige Welten, in denen wir, wenn wir wollen, zu unendlichen Abenteuern aufbrechen können. Wissenschaft ist nicht nur  "Überlebensinstrument", sondern auch Aufklärung und Abenteuer.

(Von Kardinal Bellarmino bis zur  Frankfurter Schule sahen viele in der Wissenschaft nur ein "Instrument".)

 

4. Kritikempfänglichkeit

Eine Haltung gegenüber kritischen Argumenten, die Kritik nie abwehrt (1. Stufe), auch nicht Kritik nur geduldig erträgt (2. Stufe), sondern sie überall sucht (3.Stufe), selbst dort, wo sie vielleicht in unfreundlicher Absicht vorgetragen wird.

 

5. Eine neue positive Einstellung zu Fehlern (Fallibilismus)

Fehler sind nichts, was man vertuschen müsste. Die Entdeckung eines Fehlers ist ein erfreuliches Ereignis und bedeutet immer, dass nun eine Verbesserung möglich ist - egal, worum es sich handelt (ein Urlaubsplan, eine politische Einstellung, eine physikalische Theorie). Fallibilismus bedeutet: es gibt keine Theorie, keine Meinung, keine Handlungsweise, überhaupt keine menschliche Praxis, die nicht dem Irrtum ausgesetzt wäre und die nicht verbessert werden könnte. Fallibilismus ist die Einstellung, überall auch mit unvermeidbaren Fehlern zu rechnen, für die niemand die Schuld trägt. Die vermeidbaren Fehler vermeiden, die unvermeidbaren so schnell wie möglich machen!

 

6. Intellektuelle Bescheidenheit

Das Bewusstsein der eigenen Fehlbarkeit auch da, wo man Experte zu sein glaubt. Die daraus resultierende intellektuelle Bescheidenheit ist ein zentraler Wert des kritischen Rationalismus, der sich ganz erheblich von der Überschätzung der Vernunft in der kontinentalen Aufklärung des 18. Jahrhunderts abhebt. 

Intellektuelle Bescheidenheit bedeutet auch: Nicht vorgeben, etwas zu wissen, wenn man in Wirklichkeit nichts weiß. 

(Eigentlich ist das etwas Selbstverständliches. Aber die weitaus meisten Menschen haben sich die entgegengesetzte Devise zu eigen gemacht. Z.B. möchten viele mit einem "Bekenntnis" den Eindruck erwecken, sie wüssten etwas, das sie in Wirklichkeit gar nicht wissen können.)

 

7. Realismus

Die Anerkennung der Methode,  Maximen, Meinungen und Theorien von einer von uns unabhängigen Wirklichkeit korrigieren zu lassen.

(Es gibt zwei Dinge, die wir "Wirklichkeit" nennen und nie verwechseln dürfen: Unser Bild der Wirklichkeit und die "wirkliche Wirklichkeit", auf die sich dies Bild bezieht. Letztere ist das, was sehr abstrakt auf unsere Fragen antwortet. Sie sagt nur JA oder NEIN zu unseren Versuchen, sie richtig darzustellen. Wer nicht glaubt, dass dort drüben eine Wand ist, holt sich eine Beule am Kopf. Die Beule ist nicht die Wand. Aber die korrigierte Wirklichkeit im Kopf mit der Beule kommt der wirklichen Wirklichkeit nun etwas näher. Das ist alles, was wir von der Wirklichkeit direkt erfahren: JA oder NEIN; alles andere ist ein mühselig aus vielen Teilstücken zusammengebasteltes Puzzle.)

 

8. Toleranz

Theorienvielfalt und den Pluralismus der Lebensarten schätzen, ohne einem 'faulen Pluralismus' zu verfallen; also alle Meinungen als in friedlichem Wettbewerb miteinander stehend ansehen. Toleranz ist auch die Bereitschaft, jeden Konfliktfall durch Argumentieren lösen zu wollen und niemals durch irgendeine Form der Gewalt. Eine Ausnahme ist die Abwehr gewalttätiger Intoleranz. Die neue Toleranz ist etwas ganz anderes als die traditionelle: Toleranz heißt nicht nur, den Andersdenkenden zu ertragen, sondern es für möglich zu halten, dass er recht hat. 

(Was daran neu ist? - Für einen toleranten Christen hieße das: es für möglich halten, dass der Atheist recht hat.)

 

9. Denken in Alternativen

Unterschiedliche Meinungen und Lebensarten soll man nicht nur ertragen, sondern als Versuche, die gleichen Probleme auf andere Weise zu lösen, schätzen, fördern und für sich selbst in Betracht ziehen.

 

10. Vernunft

Vernunft bedeutet, Probleme lösen zu wollen, und das nicht auf Kosten anderer. - Die Problemlösung beginnt mit der Entdeckung und Formulierung des Problems, sie geht weiter mit dem Vorschlag vieler alternativer Lösungen, der Kritik dieser Lösungen, der Auswahl der besten; dabei sind alle vernetzten Probleme zu berücksichtigen und alle von der Problemlösung Betroffenen.

(Dass komplexes Problemlösen oft schwierig und manchmal unmöglich ist, bedeutet nicht, dass eine andere Vorgehensweise besser wäre.)

Vernünftig sein heißt auch, Phantasie zu haben. Oft wird ein Gegensatz zwischen rationalen und phantasievollen Menschen konstruiert. Das ist ganz falsch: Ohne Phantasie entdeckt man nicht den "wahren Kern" eines Problems. Ohne Phantasie fallen uns keine Lösungen ein. Ohne Phantasie entdecken wir nicht die unerwünschten Konsequenzen einer Lösung. Vernunft ohne Phantasie ist erfolglos, Phantasie ohne Vernunft gefährlich.


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