H. J. Niemann: Rezension in Pädagogische Rundschau 50 (4) 1996, S. 568-72.
Jürgen
August Alt: Miteinander diskutieren. Eine Einführung in die Praxis vernünftiger
Argumentation. Frankfurt/Main, Campus Verlag 1994. 168 S. ,
26,- DM. ISBN 3-593-35052-1
Unter
den Büchern über richtiges Argumentieren fällt eines auf, das die Regeln, die
es preist, perfekt auf sich selber anwendet: Es ist kurz, prägnant, hat etwas
zu sagen und sagt es so, daß dem Leser das Lesen zum Spaß wird, weil er ohne
große Anstrengung sofort davon profitiert. Jürgen Alt gibt uns in zwölf
Kapiteln wohlerprobte Ratschläge, wie wir in Diskussionen oder wo immer wir
etwas zu sagen haben, es so sagen, daß man uns versteht.
Sein
besonderes Anliegen ist aber nicht die monologische Darstellung unserer
Lieblingsideen, sondern das Miteinander der Diskutierenden: das Gespräch kann
intelligenter sein als jeder seiner Teilnehmer, wenn wir durch gegenseitige
Kritik uns auf unsere Fehler aufmerksam machen. Den idealen Diskurs allerdings
gibt es nicht. Wir müssen damit leben, daß wir nie zu hundert Prozent
verstanden werden, daß wir nie hundert Prozent Wirkung haben werden, daß am
Ende keine hundertprozentige Einigkeit erreicht wird.
Es
geht um die Verbesserung unserer Streitkultur,
nicht um das Rechtbehalten; letzteres wäre ein Anliegen reiner Rhetorik.
Geschickte Rhetorik und gelungene
Präsentation sind hier aber nur Mittel zu dem einen Zweck, eine rationale
Diskussion zustande zu bringen. Viele Hindernisse sind dabei zu überwinden. Wir
erfahren, welche Fehler wir machen und welche Schliche andere - bewußt oder
unbewußt - anwenden, um
unsere Argumente auf scheinbar wirksame, dennoch aber ungültige Weisezu entkräften,
und wie wir darauf antworten können.
Rhetorik
ist eine der Disziplinen höherer Bildung seit der griechischen Antike. Wir
brauchen jedoch keinen historische Abriß "von
Aristoteles bis heute" zu befürchten; Alt knüpft an Neues an: seine
Argumentationstechnik fußt auf philosophischen
Theoretikern dieses Jahrhunderts, auf Karl Bühler, Karl Popper, Hans Albert,
William Bartley, Kurt Salamun und Gerhard Vollmer. Daß die
wissenschaftstheoretische Basis ganz im Hintergrund bleibt und den Leser in
keiner Weise belastet, ist das besondere Verdienst dieses Buches. Alle
Einsichten werden so leicht erreicht, daß der Leser glauben möchte, so habe
er eigentlich schon immer die Dinge gesehen.
Im
ersten Kapitel wird zunächst einmal der Mythos beseitigt, alle menschliche
Sprache sei nur Kommunikation. Das wesentlich Menschliche an der Sprache ist nämlich
ihre Funktion zu argumentieren, das heißt, Sachverhalte als richtig oder falsch
zu beurteilen, unabhängig davon, ob dem Sprecher das gefällt, nutzt oder auch
nur interessiert.
Das
zweite Kapitel beleuchtet die Voraussetzungen erfolgreicher Gesprächskultur,
die wir kennen bzw. arrangieren müssen, bevor
wir eine Diskussion beginnen: Die
Spielregel muß gelten, über Probleme zu diskutieren und nicht aus den
Eigenheiten und Einstellungen der
Diskussionsteilnehmer Schlüsse zu ziehen. Der eventuell unterschiedliche
Status der Teilnehmer muß neutralisiert werden. Gleiche Redezeit für alle.
Zeitdruck, Machtgerangel, fehlende Kompetenz können jede Diskussion erschweren;
aber es gibt Mittel, dennoch ein Ergebnis zu erreichen. Auch kann man niemanden
überzeugen, der nicht auf Argumente hören will, doch selbst mit
Vernunftverweigerern kommt Alt zurecht; denn oft spielen behebbare Ursachen eine
Rolle: Wunschdenken, liebgewordene Überzeugungen, bestimmte Interessen, die
notfalls für sich thematisiert werden müssen.
Hier
wird deutlich, wie sehr ein erfolgreiches Gespräch von einer geschickten
Diskussionsführung abhängt: Das Problem, um das es geht, muß jedem zuvor
klargemacht, der Ablauf der Diskussion bekannt sein; der Diskussionsleiter muß
schnell und sicher die verschiedenen Aussagetypen und Argumentationsstrategien
identifizieren können, um ein Abgleiten in unfaire oder irrelevante Gegenzüge
zu verhindern. Auch zuviel
Einigkeit dient keinem Gespräch; denn nur die Entdeckung unserer Fehler kann
uns weiterbringen. Und die sind immer da; harmonisches Miteinander, so schön es
ist, kann sie nur überdecken.
Wie
sehen sie aus, die verschiedenen Aussagetypen, die jeweils eine adäquate
Argumentationsweise erfordern? Das erfahren wir im dritten Kapitel. Es gibt
informative Aussagen, die etwas über die Welt aussagen und deren
Wahrheitsgehalt unabhängig von unserer Einstellung ist oder davon, wir fest wir
daran glauben. Davon zu unterscheiden sind "technologische Aussagen",
so möchte ich sie nennen, Alt nennt sie "Aussagen über die Mittel",
wie wir die Welt oder Teile darin oder einzelne Menschen verändern können.
Diese Mittel können sich wie Theorien über die Welt an der Wirklichkeit bestätigen
oder an ihr scheitern, indem sie nicht die Wirkung zeigen, die wir erwarteten,
oder unerwünschte Nebenwirkungen zeitigen.
Stillschweigend setzen sie aber voraus, daß man ein bestimmtes Ziel
erreichen soll, und das unterscheidet sie von rein informativen Aussagen; denn
Entscheidungen kann uns keine Wissenschaft abnehmen. Sie kann allenfalls eine
Hilfe sein, die informativen Anteile, die Aussagen über Mittel beinhalten, zu
prüfen.
Ein
dritte Art von Aussagen sind die normativen Sätze, mit denen wir ausdrücken,
wie die Welt und die Menschen darin sein sollten. Auch diese enthalten
informative Anteile, die wir empirisch prüfen oder
mit dem Hinweis auf eine tatsächlich anders beschaffene Welt kritisieren
können. Auch hier müssen in der
Diskussion normative und informative Aussagen, sowie
Ziele und Mittel gut auseinandergehalten werden. Schließlich ist es noch
wichtig sich klarzumachen, daß wir manchmal über Dinge in der Welt sprechen
und manchmal über Aussagen. Aussagen über Aussagen sind Meta-Aussagen und
haben ihre eigenen Spielregeln.
Das
vierte Kapitel macht einen Teil der schwer errungenen Erkenntnisse der
Wissenschaftstheorie unseres Jahrhunderts nutzbar, um Diskussionen künftig viel
einfacher und von unnötigem Ballast befreit führen zu können.
Die unfruchtbare Suche nach genauen Definitionen, der Irrglaube, exakt
definierte Begriffe seien der Weg zur Erkenntnis: das sind Restbestände einer
veralteten Wissenschaftstheorie. Es genügt, Definitionen und Begriffe soweit zu
klären, daß das Problem verstanden wird, um das es geht. Wer weniger auf
Begriffe und mehr auf die Aussagen selbst achtet, versteht seine
Diskussionspartner oder auch Texte viel schneller als der, der gewohnt ist, von
Begriff zu Begriff und von Definition zu Definition sich in rein sprachlichen
Ebenen zu bewegen. Eine vergebliche Arbeit, denn Wahrheit und Wissen beziehen sich nie auf Begriffe und Definitionen, sondern immer nur auf Sätze
über die Wirklichkeit. Die Warnung vor einer sinnlosen Anstrengung des Begriffs
soll allerdings niemanden davon abhalten, gute Definitionen und Begriffe zu
verwenden, also solche, die das Verständnis des Problems erleichtern.
Auf
die Verkennung der Arbeitsweise der Wissenschaften setzen bewußt oder unbewußt
immer noch viele Argumentationsstrategen, wenn sie ihren Diskussionsgegner mit
Fragen nach Beweisen und hinreichenden Begründungen mattzusetzen versuchen.
Auch die Frage nach den Daten, auf die jemand seine Behauptungen aufbaut, können
immer noch diejenigen in
Verlegenheit bringen, die das alte Wissenschaftsbild weiterhin für gültig
halten: wahrheitssichernde Beweise, unabweisbare Begründungen, aus exakten
Daten abgeleitete Theorien, scharfe Definitionen, die Wirklichkeit auslotende
Begriffe. Mit all dem mag die Wissenschaft irgend etwas zu tun haben, aber die Gültigkeit
ihrer Theorien stellt sie anders fest und zwar auf eine Weise, die man auf alle
Gebiete des Argumentierens übertragen kann, auf informative Aussagen, auf
technologische und auf normative: durch (1) die logische Prüfung auf Widersprüche,
(2) die Prüfung der Vorhersagen bzw. der Konsequenzen einer Theorie und (3) die
Prüfung, ob das vorgegebene Problem gelöst wird und besser gelöst wird als
zuvor. Bei technologischen und normativen Aussagen kommen die Fragen hinzu, ob
sich (4) die Vorschläge realisieren lassen, ob (5) deren informative Anteile
nicht zu bewährten Sätzen der Wissenschaften in Widerspruch stehen und ob (6)
sie nicht an unerwünschten Nebenwirkungen scheitern. Auf das alles geht Alt im
fünften Kapitel ein, das wiederum den Leser nichts von der harten
wissenschaftstheoretischen Grundlagenarbeit spüren läßt; dieser bekommt
gewissermaßen nur deren Früchte gereicht.
Das
gilt auch für die Ausbeute, die Alt der wissenschaftlichen Diskussion um
Ideologien abgewinnt. Zunächst warnt er uns davor, sich verleiten zu lassen,
Argumente einer oberflächlichen und fragwürdigen Ideologiekritik
in die Diskussion zu tragen: Die Bloßlegung der geschichtlichen Wurzeln
mag manchmal kompromittierend sein, ist aber kein gültiges Argument;
ebensowenig die Aufdeckung der Interessen, denen jemand dient, - er kann parteiisch sein und trotzdem recht haben. Diesen
zweifelhaften werden sieben stichhaltige Argumentationsweisen entgegengesetzt:
Absolutheitsansprüche sind nie haltbar; es gibt keine
wahrheitsgarantierende Autorität; Immunisierung gegen Kritik ist immer ein Schwächezeichen;
Schwarz-Weiß-Malereien werden der komplexen Wirklichkeit selten gerecht;
Verschwörungstheorien verkennen oft ungewollte Nebenwirkungen als böse
Absicht; globale Heilsversprechen sind nie einlösbar; wissenschaftlich
fundierte Wertentscheidungen gibt es nicht.
Wie
wir eigene Fehler erkennen, wie wir Überrumpelungsargumente der anderen
durchschauen und wie wir darauf reagieren können, das ist das zentrale Thema
des Buches, das nun im sechsten Kapitel sich auf neun Kardinalfehler beim
Argumentieren und deren adäquate Abwehr konzentriert: (1) der genetische
Fehlschluß - Abwehr: Wie immer Ideen entstanden sind, sie können unabhängig
davon richtig oder falsch sein; (2) Angriffe auf die Person - Abwehr: Ich habe
Argumente genannt, nennen Sie auch welche; (3) naturalistische Fehlschlüsse -
Abwehr: Aus dem Sein folgt nie ein Sollen; (4) intentionalistische Fehlschlüsse
- Abwehr: die gute Absicht heiligt nicht die bösen Folgen; (5) Umdeutung des
Gesagten - Abwehr: Ich habe das so nicht gesagt; (6) die Entweder-Oder-Taktik -
Abwehr: Die Möglichkeit einer dritten, vierten Lösung plausibel machen; (7)
Immunisierungsstrategien - Abwehr: Müssen Sie Ihre Wahrheit vor Kritik schützen?
(8) Definitionsabfragen - Abwehr: Exaktes Definieren endet nirgendwo, Rückbesinnung
auf die Probleme; (9) performative Widersprüche - Abwehr: Wer unvernünftig
handelt, kann dennoch wissen, was vernünftigerweise zu tun wäre.
Populäre
Argumente, mit denen man jede Diskussion ersticken kann, werden auch in den
folgenden Kapiteln 7 bis 9 behandelt: "Ich habe aber die Erfahrung
gemacht..."; "Gefühle lassen sich nicht kritisieren";
"Alles hängt vom jeweiligen Standpunkt ab"; "Über
Glaubensfragen kann man einfach nicht diskutieren". Hinter diesen,
auch in Alltagsgesprächen häufig verwendeten Winkelzügen verbirgt sich
eine ausgeklügelte philosophische Theorie, die zunehmend Verbreitung
in Kreisen sogenannter Multiplikatoren findet: bei Lehrern,
Hochschullehrern, Journalisten und Politikern. Um so wichtiger ist Alts
Nachweis, daß diese Strategien allesamt ungültig sind und sie ihr implizites
Toleranzversprechen, das ihnen so große Anziehungskraft verleiht, nicht einzulösen
vermögen.
Männer
und Frauen zeigen bekanntlich ein unterschiedliches Konfliktlösungsverhalten.
Auch die sprachliche und die soziale Kompetenz ist nicht die gleiche, woraus
häufig Störungen der Diskussion
resultieren. Mithin ergeben sich für Frauen und Männer unterschiedliche
Ratschläge zur Verbesserung des Dialogs (Kapitel 10).
Mit
praktischen Hinweisen auf die richtige Präsentation wird nicht gespart.
Rhetorik, Körpersprache und apparativer Aufwand mögen die Mittel
propagandistischen Mißbrauchs sein; sie sind dennoch auch für den
unentbehrlich, der gemeinsam mit anderen nach neuen Einsichten
sucht, und für den es wichtig ist,
verstanden zu werden.
Das
Buch endet mit der Frage, warum wir uns überhaupt einer vernünftigen
Diskussion unterwerfen sollen. Auch hier wäre ein Streit um den Begriff
"Vernunft" fehl am Platze, und so wendet Alt die von ihm bevorzugte
Methode, sich um Probleme und nicht um Begriffe zu bemühen,
auf die Vernunft selbst an. Das Problem ist: Wie bringe ich eine
Diskussion zustande, in der alle Beteiligten an kritischen Argumenten
interessiert sind? Die Bereitschaft dazu, die Bereitschaft Kritik zuzulassen,
soll Vernunft heißen, was immer sonst Vernunft geheißen hat oder heißen könnte.
Die Frage "Warum vernünftig sein?" läßt sich nun
umformulieren in "Warum auf kritische Argumente hören?" und wird dann
leicht beantwortbar: weil wir nur so unsere Fehler loswerden können.
Ein
Buch, das viele professionelle Schreiber nötig hätten, aber nicht lesen
werden. Ein Buch daher für deren Leser und für alle, die glauben, aus Gesprächen
lernen zu können. Vor allem aber ein Buch für diejenigen, die resigniert
glauben, daß Diskussionen nie etwas bewirken und am Ende doch nur jeder
in seiner zuvor gehabten
Meinung bestärkt wird; denn sie werden erfahren, daß es ihnen nur an
Argumentationstechniken fehlt.
H.J.Niemann