Hans-Joachim Niemann

Wissenschaftliche Standards in der Philosophie

 

Die Regeln intellektueller Redlichkeit und Verantwortlichkeit sind ungeschriebene, von Generation zu Generation tradierte Regeln. Ich habe sie nicht erfunden, sondern wie üblich bei der Ausbildung zum Naturwissenschaftler von anderen gelernt. Man soll sie beherzigen, nicht anderen vorschreiben. In diesem Fall jedoch, denke ich, müssen sie einmal genannt werden, um deutlicher zu machen, wovon die Rede ist. Hier eine Auswahl, wie diese Regeln in der Forschung, in den Patentämtern  und in der Hermeneutik älterer Art üblich sind[1]:

(1) Neuigkeitsanspruch: Nachweis einer kleinen Priorität. Neu sein kann: ein Problem, seine Lösung, Argumente oder eine andere Gewichtung eines alten Problems. Neuigkeit ist eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung. Ein neues Problem muss außerdem wichtig sein; eine neue Lösung muss außerdem eine Verbesserung sein.

(2) Fortschrittsanspruch: der Nachweis einer kleinen (oder großen) Verbesserung.

(3) Relevanzprinzip: Zeigen, dass der behandelte Problemkomplex wichtig ist im Vergleich mit anderen anstehenden Problemen.

(4) Begründungsprinzip: Neuheit, Fortschritt und Wichtigkeit müssen begründet werden. Begründen heißt Argumentieren.

(5) Verhältnismäßigkeitsprinzip: Der Aufwand an Text, neuen Begriffen und komplexen Gedankengängen, also die Deutungskosten, sind in Relation zu halten zu den Ergebnissen, dem Lesegewinn.

(6) Verstärkungsgebot: kritisierte Auffassungen soll man gegebenenfalls verbessern und stärkenkeinem Fall ihre Schwächen ausnutzen. Der Kritiker ist verantwortlich für die richtige Darstellung des Kritisierten (Popanzverbot).

(7) Umsichtsregeln I: Behandlung der oppositionellen Ansichten. Dazu gehört auch das Schulenverbot, soweit Schulen der Dogmatisierung, d.h. der Kritikabwehr, dienen.

(8) Umsichtsregeln II: Suche nach Alternativen; Analyse naheliegender Konsequenzen; Analyse der hauptsächlich in Frage kommenden Prämissen, Bedingungen, Voraussetzungen.

(9) Objektivitätsregel: die Argumente unabhängig vom Schreiber und nachprüfbar machen. 

(10) Empirismusregel: die Ergebnisse der Wissenschaften berücksichtigen. Ein Widerspruch zu bewährtem empirischen Wissen oder ein logischer Widerspruch müssen als offenes Problem behandelt werden.

(11) Kritikimmmunisierungsverbot: nichts zu tun, um die Kritik zu erschweren oder gar unmöglich zu machen[2].

(12) Verbalismusverbot: wörtlich nehmen ist nur akzeptabel, wenn der Text mit der Meinung des Autors harmoniert.

(13) Textverantwortung:  Wenn Wichtiges davon abhängt, darf man sich nicht auf die Sekundärliteratur verlassen (ad fontes!).

(14) Beweislastregel: die argumentative Bringschuld hat, wer Ungewöhnliches behauptet, bzw. allgemein als unproblematisch Eingestuftes wie Alltagsdenken, Lehrbuchwissen etc. problematisiert.

(15) Verstehbarkeitsregel: Alles in seinen Kräften Mögliche tun, um verstanden zu werden.

(16) Minimalisierungsgebot: die Fehlerentdeckung durch die kleinstmögliche Darstellung erleichtern.

(17) Präzisionsprinzip: Die Rolle der Präzision in den exakten Wissenschaften, die zu Entdeckungen führen kann, erfüllt in der Philosophie die klare Sprache.

(18) Kompetenzregel: Alle Disziplinen gegeneinander offen halten; keine Kompetenzschranken errichten.

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Moralische Prinzipien wie diese hier werden oft als Einschränkung der Handlungsfreiheit gesehen. Aber außer um Prinzipien derWissenschaftsmoral handelt es sich bei ihnen  gleichzeitig um heuristische Prinzipien. Wer sich an solche oder ähnliche Regeln hält, verirrt sich nicht so leicht in Sackgassen. Die Herausarbeiten eines neuen Problems, die Minimalisierung der Darstellung, Klarheit, Objektivität, die Frage nach der Wichtigkeit usw., das alles kann man auch positiv betrachten, nämlich als heuristische Leitlinien.

Die Beachtung von Regeln irgendwelcher Art ist in der Philosophie sehr verpönt. E gibt keine bestimmte Methode, alles ist erlaubt, um im Denken weiterzukommen. Die Philosophie scheint ein  Paradies des durch keine Regeln eingeschränkten Denkens zu sein. Durch genau diese freie Art des Denkens sind  fast alle Wissenschaften aus der Philosophie hervorgegangen, und das allein schon sichert ihr,  obgleich sie keine Wissenschaft im strengen Sinne ist (weil sie keine falsifizierbaren Aussagen macht), einen Platz an den Universitäten. Dennoch, denke ich, geht der Philosophie nichts von ihrer Freiheit verloren, wenn sie sich wie andere Wissenschaften (und wie etliche Philosophen) an wissenschaftlichen Standards hielte. Man kann durchaus - wie hier demonstriert - behaupten, dass der Philosophie sehr viel verloren ginge, wenn sie das nicht täte.

Auch Sokal und Bricmont haben methodische Regeln aufgestellt, die nicht deshalb schon falsch sind, weil sie selber Fehler machen, sondern ganz im Gegenteil sehr geeignet wären, die Philosophie von der Last schlechter Literatur zu befreien. Die Sokal-Bricmont-Regeln lauten:

Man soll in den Geisteswissenschaften

(1) die Philosophie der Aufklärung ernst nehmen;

(2) auf Theorienbildung verzichten, wenn kein Interesse an theoretischer Prüfung besteht;

(3) die Wissenschaften ernst nehmen, sie nicht als eine "Erzählung" unter anderen abtun, sich nicht von der Textmetapher verführen lassen;

(4) den Dialog zwischen den two cultures[3] fortsetzen;

(5) empirisch arbeiten, aber nicht wissenschaftsgläubig sein;

(6) die exakten Wissenschaften nicht nachahmen;

(7) autoritäre Argumente ('das gilt in den Wissenschaften') als ungültig beiseite lassen;

(8) wissen, wovon man spricht;

(9) das Dunkle nicht für das Tiefe ausgeben;

(10) subjektive Überzeugungen nicht überschätzen.[4]

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QUELLE:  Ad hoc veränderter Abschnitt 13 aus: Hans-Joachim Niemann, Die 'Krise in der Erkenntnistheorie' - Sokal, Bricmont und die wissenschaftlichen Standards in der Philosophie, CONCEPTUS Nr. 80 (1999), S. 1-35 (erschienen Aug. 2000).  Zusammenfassung   -  Abstract   -   Volltext (pdf-Datei 200 kB)
 


[1] Es handelt sich um natur- und literaturwissenschaftliche Regeln, die dienlich sein können, die Qualität nichtempirischer wissenschaftlicher Forschungsarbeiten zu beurteilen. Ähnliche, zum Teil konkreter auf bestimmte Schulen eingehende Regeln findet man bei Fusfield 1993 und der dort in Anm. 9 und 10 angegebenen Literatur.

[2] Albert 1968, Kap. V, Abschn. 17 und passim.

[3] Gemeint ist die von C. P. Snow ausgelöste Diskussion (s. Snow 1956 und Kreuzer 1987) darüber, wie man den Graben zwischen den Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften zuschütten könnte. Inzwischen ist nicht nur die vertikale Trennlinie zu beklagen, sondern auch eine horizontale: immer mehr Philosophen und Wissenschaftler versuchen, ein breites Publikum anzusprechen und verfallen dabei dem bekannten religiösen Schema von Angstmachen und Erlösen (Wälder, Seen, Ozonschichten usw. sterben, aber wir können euch retten.; entsprechend in der Philosophie: es gibt keine Wirklichkeit; Vernunft führt zu Auschwitz, vom vielen Wissen wird man dumm; aber wir lehren euch das neue Denken). Eine Analyse anhand eines konkreten Falls, wie man Wissenschaftler und ein gläubiges breites Publikum zugleich bedient in: Niemann 1995.

[4] Regeln (1)-(3) siehe "Introduction", (4)-(10) siehe "Epilogue" von op. cit. ( Anm. 1).